"Wahrheit" die blind macht
Nicht jeder, der nachdenkt über das Leben, landet automatisch in einem Such-Modus, der Gott zum Ziel hat. Die Fantasie ist ein Mittel, das vielseitig einsetzbar ist, und hat im technischen und naturwissenschaftlichen Bereich der Geschichte oft zu Ergebnissen geführt, die Teil des modernen Lebens geworden sind. Erfinder und Begründer neuer Denkrichtungen waren nicht selten dem Spott ihrer Umgebung ausgesetzt, weil der Mensch als Teil der Masse gewohnte Strukturen nicht gern aufgibt, und auch sein Denken gern im gemütlichen Kontext des Gewohnten kuschelig warm hält.
Wenn es um die Frage nach „Gott" geht, hat man als jemand, der einen religiösen Drang in sich verspürt, viele Möglichkeiten, seine Wunschvorstellungen mit dem Angebot auf dem spirituellen Markt anzureichern.
Im Gegensatz zum empirischen Vorgehen im wissenschaftlichen Rahmen ist der Bereich des Glaubens eine riesige Spielwiese, auf der jeder sich nach seinen Vorlieben austoben kann. Neben der Fantasie spielen auch persönliche Vorlieben eine Rolle, die von der eigenen Biografie geprägt sind. Dabei ist auch noch ein Unterschied in den Motiven erkennbar. Ich meine damit, ob jemand nach Gott sucht, weil er eine wie auch immer geartete Beziehung zu ihm/ihr anstrebt, oder ob dieses unbekannte Wesen in spannende Gedankenspiele integriert ist, die wie ein philosophisches Puzzlespiel gehandhabt werden, das man zu lösen versucht, das aber nichts mit der eigenen Person zu tun hat.
Religiös gefestigte Menschen mögen diese freizügige Art des Suchens kritisieren und ihre in der traditionellen Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte versteinerten Dogmen ins Feld führen, von denen sicher nicht jeder weiß, wo die ihren Ursprung haben.
Ein klar umrissenes und gefestigtes Weltbild scheint als Fundament für die Lebensführung sicher sehr hilfreich zu sein, aber wenn dann der Begriff der Wahrheit hinzukommt, die dieser Basis mehr Geltung verschaffen soll, werden aus ursprünglich individuell gedachten Lebensgrundlagen sehr schnell voneinander abgegrenzte Kampfpositionen, die im Extremfall zu brutalen Glaubenskriegen führen, wie wir sie ja aus der Geschichte tatsächlich kennen – und aus der Gegenwart natürlich auch. Wenn die Dinge sich so weiterentwickelt haben, geht es aber nur noch selten um reine Glaubensinhalte, denn die könnte man, wenn man wollte, auch im Gespräch austauschen, um aneinander zu wachsen. Wenn buchstäbliche Waffen mit ins Spiel kommen, ist aus den unterschiedlichen Positionen längst ein politischer Machtkampf um gegensätzliche Positionen geworden.
Aber lange bevor es zu solchen extremen Auseinandersetzungen kommt, kann auch ein gewaltfreier Umgang mit dem Begriff Wahrheit das Leben von Menschen mit entsprechender Prägung – z.B. fehldefinierte Demut und vorauseilender Gehorsam - heftig durcheinander bringen. Mit „gewaltfrei" meine ich den Verzicht auf physische Gewalt, berücksichtige aber, dass es auch die psychische Komponente gibt, die wesentlich differenzierter arbeitet, letztlich aber einfach nur auf andere Weise tötet.
Wahrheit, Freiheit und Einheit
Sie kann als Druckmittel gebraucht werden, um Menschen in ein Denkmuster zu zwängen, das angeblich die Einheit fördert – ein Begriff, den ich als ähnlich fragwürdig empfinde wie den der Wahrheit. Letztere soll „frei“ machen, wird aber von denen, die sie auf die Fahne ihrer Kampftruppe gesetzt haben, wie Scheuklappen eingesetzt, die das Blickfeld einschränken, um die damit Bestückten abhängig von denen zu machen, die die Zügel in der Hand halten, um die Richtung und das Tempo vorzugeben. Wenn es tatsächlich eine Freiheit ist, in die man dadurch versetzt wird, dann ist es die, nicht mehr eigenständig denken und entscheiden zu müssen, was ja für viele eine unüberwindliche Hürde vor einem selbstbestimmten Weg darstellt.
Wenn der Wahrheitsbegriff erfolgreich missbraucht wird, ist es ein Leichtes, mit der Einheit ähnlich umzugehen, um Menschen noch tiefer in die Abhängigkeit von anderen Menschen zu führen. „Ich habe dich vor meinen Wagen gespannt und dafür gesorgt, dass du nicht durch deine Umgebung abgelenkt wirst, sondern immer dein Ziel im Auge behältst - was ja mein Ziel ist. Neben dir ziehen noch viele andere, weil der Wagen sehr groß ist, den ihr bewegt. Damit wir unser Ziel erreichen, müsst ihr im Gleichschritt und im gleichen Tempo ziehen, denn wenn jeder denkt und tut, was er will, kommen wir nicht weiter".
Klingt doch vortrefflich. Natürlich erreicht man mit gemeinsamer Kraftanstrengung mehr, als wenn jeder auf seine eigene Weise vor sich hin wuselt. Aber das ist gar nicht der Punkt. Die erste Frage ist nicht, ob Einheit etwas Gutes ist oder ob sie schadet. Vielmehr kommt es darauf an, wer es ist, der sie erreichen will, und mit welchen Motiven, welchem Ziel und mit welchen Methoden; daraus ergibt sich die Antwort auf die zuerst genannte Frage von selbst.
Ich frage mich auch, ob sie Ziel, Mittel zum Zweck oder Begleiterscheinung ist. Ein Autor aus alter Zeit, dessen Werke in einem geistlichen Sampler aufgenommen wurden, der unter dem Begriff „Bibel" ziemlich bekannt ist, inhaltlich bei der Allgemeinheit aber weniger Beachtung findet, schreibt: "Und über das alles zieht die Liebe an, die alles andere in sich umfasst. Sie ist das Band, das euch zu vollkommener Einheit zusammenschließt. Der Frieden, den Christus schenkt, muss euer ganzes Denken und Tun bestimmen. In diesen Frieden hat Gott euch alle miteinander gerufen; ihr seid ja durch Christus ein Leib. Werdet dankbar!" – Kolosser 3:14,15 GNB.
Die Liebe bewirkt – wenn ich den heutigen etwas schwammigen Umgang mit dem Begriff unberücksichtigt lasse – dass man sich füreinander interessiert, auch für das, was der/die Andere denkt. Es ist keine Einheit, die „von oben“ angeordnet wird und verbindliche Denkweisen verlangt, mit vorgegebenen Lehren, sondern sie entsteht dadurch, dass Menschen dasselbe Ziel anstreben, das allen auf eine ganz individuelle Weise ins Herz gelegt wurde.
Für diese Einheit muss man keine Dogmen aufgedrückt bekommen und man benötigt auch keine Führer, denn: „Einer ist euer Führer, der Christus". Da er das Zentrum ist, dem alle entgegenstreben, nur eben aus völlig unterschiedlichen Richtungen, geht er auch mit allen völlig unterschiedliche Wege. Wenn ich von Wolfsburg nach Hamburg will, werde ich nicht, nur um mit Leuten aus Flensburg denselben Weg mit demselben Verkehrsmittel zu beschreiten, zunächst dorthin fahren - womit ich nichts gegen Flensburg sagen will, und natürlich können solche Umwege auch Spaß machen. Ich kann aber dank der modernen Kommunikationsmittel im Kontakt mit ihnen bleiben, zwecks Erfahrungsaustausch und gegenseitiger Stärkung.
Zurück zur „Wahrheit".
Wenn ich jemanden bitte, mir zu einem bestimmten Sachverhalt eine zutreffende Auskunft zu geben, will ich, dass er die Wahrheit sagt, weil das förderlicher ist als belogen zu werden. Wenn er mir versichert, tatsächlich die Wahrheit gesagt zu haben, freue ich mich, wenn ich Gründe habe, dem Glauben zu schenken. Die könnten z.B. darin bestehen, dass ich bereits gute Erfahrungen diesbezüglich mit ihm gemacht habe.
Manche gehen aber etwas anders mit diesem Wort um. Aus „ich sage die Wahrheit“ wird unversehens „ich habe die Wahrheit" oder „ich bin in der Wahrheit". Nicht alle drücken das so vordergründig aus, aber ich beobachte häufig, dass besonders – aber nicht nur – religiös Geprägte dazu neigen, ihren Anspruch eins zu sein mit der Wahrheit auf alles übertragen, was sie denken, empfinden und sagen. Man soll ihnen also nicht nur Glauben schenken, weil man sie als glaubwürdig kennengelernt hat, sondern weil sie die Wahrheit haben und gewissermaßen ihre Vertreter sind.
Jetzt stelle ich dieser „felsenfesten" Überzeugung die Haltung der Suchenden und Fragenden gegenüber.
Diejenigen, von denen ich eingangs geschrieben habe, dass sie in Glaubensfragen nicht nach empirischen Kriterien gehen sondern der Intuition und manchmal auch der Fantasie folgen, sind für mich glaubwürdigere Gesprächspartner, und zwar gerade deswegen, weil sie ihre Gedanken nicht in Zement gegossen sondern sich eine suchende Haltung bewahrt haben.
Ich denke, jeder, der seine Gedanken in irgendeiner Form auf Gott ausrichtet, ist sich darüber im Klaren, dass er nach etwas oder jemandem sucht, das oder der oder die weit außerhalb unseres Vorstellungsvermögens angesiedelt ist, und allein schon deswegen von niemandem so erfasst werden kann, dass man ausrufen könnte: „Ich hab's erkannt, ich habe die Wahrheit, und zwar die einzige und vollständige!“.
Der oben zitierte Bibelschreiber bezeichnet Gott als jemanden, den wir suchend spüren und ertasten sollen und auch können, weil er keinem von uns fern ist, denn „in ihm leben, bewegen wir uns und sind wir“. Apostelgeschichte 17:27,28. Tasten ist unbestreitbar ein sehr persönliches Vorgehen, den niemand stellvertretend für einen anderen übernehmen kann, und wenn jeder Mensch an irgendeinem Ort der Erde aufgefordert ist, ihn zu ertasten, muss er auch für jeden individuell erfahrbar sein.
Das deutet ein weit gefächertes Arbeitsfeld für die Suche an, und jeder kann hier einen Aussichtspunkt suchen, der das Sichtfeld erweitert. Alles, was wir sehen, ist, und ist durch dessen bloße Existenz natürliche Wahrheit, ungeachtet unseres Verstehens. Wer behauptet, die Wahrheit bereits zu besitzen und es als ein Muss hinstellt seinen Deutungen zu folgen, wenn man am Leben bleiben will, benutzt sie als ein Paar Scheuklappen (gefällt mir einfach, das Bild) und behindert so das freie weite Sichtfeld dessen, der sie sich aufsetzen lässt.
Hier ein Versuch, diese Gedanken im Liedform zu transportieren. Und ich habe vor, an einigen konkreten Beispielen zu zeigen,was der Missbrauch des Begriffs bei Menschen anrichten kann.