Kapitel 3
Einheit um jeden Preis?
Ein böses Wort, das mir dazu ohne viel Widerstand in den Sinn kommt, ist der Begriff „Sekte“. Viele brauchen nur das Wort zu hören, und schon wissen sie, wer gemeint ist. Es ergibt sich für sie einfach aus einem Größenvergleich. Groß ist richtig, klein ist Sekte. Sekte ist „anders“. Anders als was? Es muss ja einen Grund haben, dass diese Gruppen Minderheiten repräsentieren.
Was mir zu diesem aus meiner Sicht nichtssagenden Wort als erstes einfällt hat nichts mit Größe zu tun, sondern eher mit dem Blickwinkel. Ich erspare dem Leser und mir den Versuch einer objektiven Begriffserklärung, denn das Wort Blickwinkel trägt ja schon den subjektiven Charakter in sich selbst. Für den Mainstream-Denker sind „Sekte“ immer die anderen, also die außerhalb des gesellschaftlich Anerkannten.
Ich habe mich schon in der Einleitung als Zweifler geoutet, was den etablierten Volksglauben betrifft. Befinde ich mich möglicherweise schon auf der Route, die zum Sektierertum führt, wenn ich nach Gleichgesinnten suche, sie gar finde? Was, wenn das, was man landläufig unter Christentum versteht, selbst das Ergebnis einer Entwicklung ist, die sektiererische Wurzeln hat? Ich wage mal einen - auch weiterhin nicht akademisch ausgerichteten - Rückblick in die Anfangszeit des christlichen Glaubens, als man die „Pioniere“ der Wegbereitung selbst noch als Sekte bezeichnete.
Der erste Wegbereiter war Jesus selbst, was ich jetzt nur als eine Grundaussage für einen einfachen Einstieg benutze. Man könnte sonst auch sagen, es war Johannes der Täufer, der eine diesbezügliche Prophezeiung auf sich anwandte: Ich bin die "Stimme eines Rufenden in der Wüste: Macht gerade den Weg des Herrn", wie Jesaja, der Prophet, gesagt hat. Johannes 1: 23; Zitat aus Jesaja 40:3
Ginge man noch weiter zurück, würde man bei Mose landen, der eine Art Vorbildfunktion im Blick auf Jesus innehatte: Einen Propheten wie mich wird dir der HERR, dein Gott, aus deiner Mitte, aus deinen Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr hören, 5. Mose 18:15 .
Aber auch dann wäre man noch nicht am Anfang der Wegbereitung angelangt. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber tatsächlich muss ich auch hier um Geduld bitten und auf später verweisen, weil die eigentliche Frage nach dem, was aus biblischer Sicht eine Sekte ist, ihre grundlegende Antwort in einer noch viel weiter zurückliegenden Zeit findet.
Für den Moment also beginne ich bei Jesus, weil ich die Minderheitenfrage im Zusammenhang mit dem Christentum betrachten will. Er war von Geburt Teil eines Volkes, das traditionsgemäß in einem besonderen Bundesverhältnis mit Gott stand. Das Gesetz, das diesen Bund begründete, sollte sie damals von dem Rest einer Welt absondern, die unter der Fuchtel von Gottheiten lebte, die durch gesellschaftlich-religiöse Verquickungen eine Machtstruktur der Ausbeutung entwickelt hatten. Auch dazu später mehr, wenn wir den Blick auf die erste wirklich geschichtsträchtige Kultur richten, die rudimentär immer noch in heutigen Religionen zu finden ist. Obwohl sich also seine Volksgenossen wegen jenes Gesetzesbundes trotz der römischen Vorherrschaft als Gottes besonderes Eigentum betrachteten, sagte Jesus von seinen Jüngern, er habe sie aus der Welt herausgeholt, und sie seien deshalb kein Teil davon. Was sollte das? Das waren sie doch schon von Geburt an nicht.
Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hat sie gehasst, weil sie nicht von der Welt sind, wie auch ich nicht von der Welt bin. Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt hinwegnimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie sind nicht von der Welt, wie ich nicht von der Welt bin. Johannes 17:14-16
Wenn euch die Welt hasst, so bedenkt, dass sie mich vor euch gehasst hat. Wärt ihr von der Welt, würde die Welt das ihr Eigene lieben. Da ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt heraus erwählt habe, darum hasst euch die Welt. Johannes 15;18,19
Wie hat er denn dieses Herausholen praktiziert? Er begann sein öffentliches Lehren mit den Worten „Bereut“,
„Kehrt um“, „tut Buße“ – je nach Übersetzung. Alle verwendeten Begriffe haben aber eines gemeinsam: ihnen muss ein Umdenken vorausgehen.
Wir ahnen schon, was ihrem Umfeld sauer aufstieß. Man hatte doch eine Religion, und zwar die beste, die es aus ihrer Sicht gab. Man hatte seinen volkseigenen Gott, lebte sein Leben, hatte Ziele, viele sogar Wohlstand, und religiöse Führer, die die Aufgabe hatten, sich stellvertretend für die arbeitende Bevölkerung um die Angelegenheiten mit Gott zu kümmern. Für die Sünden gab es die Schlachtopfer. Alles war doch gut und vor allen Dingen durch eine lange Tradition begründet. Und jetzt kommt da so ein Bauarbeiter und will ihnen was von Umdenken erzählen?
Wir kennen das ja aus unserem eigenen Leben. Man hat sich in seinen persönlichen gewachsenen Strukturen mit all ihren dazugehörigen Anpassungen und Lebenslügen mehr oder weniger wohlig eingerichtet. Wir sind Teil einer intakten Gesellschaft – wenn man nicht gar so genau hinsieht – und es gibt für alles Leute, die zuständig sind. Auch für die spirituellen Aspekte des Lebens, falls man sich dafür interessiert.
Wie geht es uns denn, wenn jemand in diese kuschelige Seifenblase piekst? Spontane Zufriedenheit ist nicht das Wort, das mir dazu einfällt. So ähnlich empfanden das auch viele Leute damals. Besonders natürlich diejenigen, die ein Leben führen konnten, das keine Wünsche offen ließ. Das bringt ja der Wohlstand oft so mit sich: Wenn alle Grundbedürfnisse befriedigt zu sein scheinen, braucht einem niemand mehr zu erzählen, was einem fehlt. Das sucht man sich nach den eigenen Vorlieben aus.
Dieser Zimmermann brachte das Umdenken mit dem Reich Gottes in Verbindung, das er auch noch als nahe herbeigekommen bezeichnete. Reue, Buße, Umkehr – warum, wie und in welche Richtung? Dass Himmelreich oder Reich Gottes stand für dessen Gegenwart und Königsherrschaft. Hat man ja lange genug drauf gewartet. Wäre doch schön, wenn man wieder ein autarkes Land wäre und einen eigenen König hätte, und im Grunde wartete man ja schon lange auf den „Messias“ , den „Gesalbten“ Gottes, der es den Römern zeigen würde.
Wir finden es ja alle wunderbar, wenn uns etwas Schönes versprochen wird, aber wir reagieren sehr unterschiedlich, wenn damit eine an uns gestellte Erwartung einhergeht. Umdenken, umkehren, mitarbeiten, um das Versprochene zu realisieren. Klingt anstrengend. Wenn man dann auch noch mit ansehen muss, dass immer mehr Menschen diesem Verführer nachlaufen und einschneidende Änderungen in ihrem Leben vornehmen, zu denen man selbst nicht bereit ist, kann es schnell zu etwas kommen, was ich mal wenig einfallsreich „Kain-Syndrom“ nenne. Besonders die Männer, deren Wort stellungsgemäß etwas galt beim Volk, wurden unruhig, weil sie sahen, welchen Einfluss dieser Handwerker, bar jeglicher Gelehrsamkeit, über die ihnen anvertraute Herde hatte – für die sie sich sonst recht wenig interessierten. Es erschien ihnen, als hätte Gott ihnen seine Gunst entzogen und den kleinen unbedeutenden, ungebildeten „Verfluchten“ zugewandt. … nur dieses verfluchte Volk läuft ihm nach, das keine Ahnung vom Gesetz hat – Johannes 7:49 ; Sie konnten sich auf eine lange Geschichte eines Volkes berufen, dem sie als Vorsteher und Lehrer dienten. Jetzt bekommen diese Untermenschen, die Letzten auf der Skala der Bedeutsamkeit, eine so große Aufmerksamkeit von jemandem, der sich lästerlicherweise auch noch als Gottes Sohn bezeichnete. Ärgerlich, dass sein Wirken denen, die es sehen wollten, so viele Gründe lieferte, dieser Behauptung Glauben zu schenken.
Natürlich waren das für sie Sektierer, aber trotz all dem muss in ihnen ein latentes Erkennen ihre Magenwände zerfressen haben, denn normalerweise muss man absolut nicht neidisch sein, wenn sich jemand ohne nachweisbare Kompetenz zum Lehrer aufschwingt und Menschen berührt und heilt, denen man selbst, als die Ersten des Landes, nur Verachtung entgegenbrachte.
Aber sie wussten natürlich nicht, dass die Zeit reif war, die Wertigkeiten umzukehren. Jesus stellte einmal nach einem Gespräch mit einem reichen jungen Mann die für seine Zuhörer sicher verwirrende Behauptung auf, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr spazieren würde als dass ein reicher Mensch in das Reich Gottes käme. Eine sehr bestürzte Jüngerschar empfand das wohl so, als könne dann niemand gerettet werden, und sie fragten sich und dann ihn, was es unter diesen Umständen brächte, dass sie alles hinter sich gelassen hatten um ihm nachzufolgen. Er stellte ihnen eine Zukunft in Aussicht, die eine verantwortungsvolle Einstellung voraussetzte, und versprach vielfachen Ersatz für die hinter sich gelassenen Dinge, was sogar ewiges Leben beinhaltete. Kein schlechter Höhepunkt. Aber er setzte noch einen drauf, denn eine wirklich nachhaltige Erneuerung musste auch damit einhergehen, dass es keinem Machtmenschen mehr möglich sein würde, die Schwächeren auszubeuten. Sehr beruhigend für Letztere, wie er die zukünftige Zeit charakterisierte. „Doch viele, die Erste sind, werden Letzte sein und die Letzten Erste.“. Matthäus 19: 16-30
Wer das vertiefen will, mag dazu noch ein Gleichnis lesen, das gewerkschaftlich Orientierten eine vorübergehend andere Gesichtsfarbe verleihen würde. Nicht im Sinne einer echten Metamorphose, sondern eher als ein Zeichen kurzfristigen stimmungsbedingten Blutdruckanstiegs. Aber es stellt sehr gut die Motive der eifersüchtigen Leiter dar, die schon seit Jahrhunderten ihre Vormachtstellung genossen, also für ihren Herren als fest Angestellte gearbeitet hatten. Jetzt holte dieser anmaßende Mensch doch tatsächlich Menschen aus der Gosse und gewährte ihnen etwas, was doch ihnen als Leiter vorbehalten war. Die wirklich allerletzten wurden nach vorn geholt, auf die besten Plätze.- Matthäus 20: 1-16.
Die Aufforderung umzukehren war für sie – also die bisher Ersten - sicher keine attraktive Option, denn sie hatten doch schon die besten Plätze. Und umdenken, wenn man die komplette Weisheit schon in sich selbst manifestiert fand?
Wenn er sagte, was in den Worten aus Markus steht, und ich verstehe das als Grundgedanken seines Lehrens, der seit damals nichts an Bedeutung verloren hat, dann war das Umdenken erforderlich geworden, weil das Bundesverhältnis mit Gott nur noch formal bestand. „Dies Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir“. Diese Worte Jesajas zitierte Jesus, um sie auf die religiöse Heuchelei anzuwenden, und zeigte damit, dass sie nichts an Aktualität verloren hatten.
Matthäus 15: 7,8 – Zitat aus Jesaja 29:13: „Dieses Volk wendet sich mit dem Mund an mich und ehrt mich mit den Lippen, doch ihr Herz ist weit entfernt von mir. Und ihre Ehrfurcht vor mir gründet sich auf Regeln von Menschen, die man sie gelehrt hat.
Wenn Jesus predigte, das Reich Gottes sei nahe, dann ist das Zitat aus Jesaja für jeden, ob zur Zeit Jesajas, Jesu oder heute, ein Wort, das im Kontext das Wirken Jesu voraussagt und damit auch das Ziel ins Blickfeld rückt. Die ermutigenden Worte, die von einem Urteil über formelle Religion zur Hoffnung übergehen, die das Reich Gottes bereithält, zeigen, dass es Gott nicht um das Strafen geht, sondern um den Segen, den es mit sich bringt, wenn man danach strebt, die Dinge mit seinen Augen zu sehen und entsprechend zu denken und zu handeln.
Eigentlich hat er immer wieder mal auf das hingewiesen, was die Anbetung bewirken soll. Wir sollen Nachahmer seiner Liebe und Barmherzigkeit werden. Um das zu verstehen, ist es notwendig, sich nicht hinter der Formel zu verstecken, jedes Wort in der Bibel sei von ihm. Wir lesen davon, wie Menschen ihn sahen und wie sie die Dinge nach ihren Vorstellungen von ihm eingestuft haben. Die Zitate, die als wörtliche Botschaft von ihm gekennzeichnet wurden durch den Ausspruch „Gott, oder der Herr, oder Jahwe oder Jehova (wird auch noch thematisiert), spricht“, lassen sein Eingreifen als Belehrung oder Korrekturversuch erkennen, und zeigen bei denen, die ihn lieben, das entsprechende Umdenken, eine Weiterentwicklung.
Leider muss aber auch gesagt werden, dass die Gegenkräfte, die die Anbetung an ihre eigenen Vorstellungen knüpften, unbelehrbar blieben - was sich übrigens bis heute nicht geändert hat. Eine ichbezogene, selbstgefällige Anbetung zeigte sich auch in den Götzen, die verehrt wurden, die auch ihre eigenen Propheten hatten, die nur vorgaben, im Namen Gottes zu predigen. Letztlich führte das zu der Verbannung nach Babylon, die für uns durch den Hinweis aus Offenbarung 18:4 als ein ernstes Vorbild und eine Warnung steht, deren Vielschichtigkeit auf Anhieb nicht zu erkennen ist. Da jenes Wort der Anlass für dieses Buch ist, beabsichtige ich in den nächsten Kapiteln zu versuchen, diese Schichten durchzuschaufeln.
Aber ebenso wie die Propheten das Exil vorhersagten, verbanden sie das auch immer mit den Segnungen, die von Anfang an an den Vorsatz Gottes mit frei aber in seinem Sinne denkenden Menschen geknüpft waren. Und das liest sich in dem von Jesus zitierten Text aus Jesaja so:
Jesaja 29:14, 17-20
Deshalb bin ich es, der wieder Wunderbares für dieses Volk tun wird, Wunder über Wunder. Und die Weisheit seiner Weisen wird zugrunde gehen und der Verstand seiner Verständigen wird verborgen werden.“
Nur noch kurze Zeit und der Libanon wird in einen Obstgarten verwandelt werden und der Obstgarten wird als Wald betrachtet werden. An jenem Tag werden die Gehörlosen die Worte des Buches hören, und von Dunkel und Finsternis befreit, werden die Augen der Blinden sehen. Die ein sanftes Wesen haben, werden sich sehr über Jehova freuen, und die Armen unter den Menschen werden über den Heiligen Israels jubeln. Denn der Tyrann wird nicht mehr da sein, mit dem Angeber wird es zu Ende gehen.
Das hat sich vorübergehend in dem, was Jesus durch Gottes Geist aufgebaut hat, als möglich erwiesen und bleibt das Ziel seines Wirkens, bis die Worte des Propheten Habakuk wahr werden: „Denn die Erde wird davon erfüllt sein, die Herrlichkeit des HERRN zu erkennen, wie das Wasser den Meeresgrund bedeckt.“. Habakuk 2:14
Das „Opfer der Lippen“ und der selbstaufopfernde Dienst Jesu waren erkennbar gesegnet. Um es im Blick auf Abel zu sagen: Sein Opfer wurde angenommen. Und was erlebten die Führer? Die Menschen, durch die Ihre Dienste als Gesetzeslehrer doch ihren Sinn hatten, liefen ihnen davon. In Scharen! Die Reaktion Kains auf die unerfreuliche Erfahrung der Ablehnung kann als beispielhaft dafür angesehen werden, wie Menschen reagieren, wenn sie meinen, jemand anders würde unberechtigt bevorzugt.
Dieser anmaßende Wanderprediger musste weg, dann wäre die Ordnung, wie man sie gewohnt war, wiederhergestellt. Letztlich kostete es nicht allzu viel Anstrengung, ihn loszuwerden. Als offenbar wurde, dass er die Erwartungen nicht erfüllte, die man auf ihn projizierte, waren die Massen leicht zu beeinflussen. In einer seltsam anmutenden Gerichtsverhandlung forderte man seinen Tod, und nachdem das vollbracht war und seine Jünger sich in alle Himmelsrichtungen verstreut hatten, war allen klar, dass diese Geschichte eine Zeiterscheinung und die Gruppe ein Sekte war. Sekte also: Klein und unbedeutend, kurz zu scheinbarer Bedeutung angewachsen und aufgeblasen, um dann wieder in sich zusammenzufallen.
Aber die Geschichte war, wie wir alle wissen, doch noch nicht zu ihrem Ende gekommen. Im Gegenteil: es ging erst richtig los. Selbst wenn in unserem Kulturkreis die Bibel bestenfalls in Regalen herumsteht, um den Staub auf sich zu ziehen, tragen doch die alljährlich stattfindenden Festivitäten, die auf diese Ereignisse verweisen sollen, dazu bei, dass rudimentäre Erinnerungen kurzfristig abgerufen werden können - zwischen bemalten Eiern, die an wehrlosen Büschen baumeln, lächelnden Hasen, die artfremde Dienstleistungen erbringen, und Osterglöckchen in den Köpfen versteckt.
Jesus war auferstanden, hat sich seinen Jünger*innen gezeigt, sie zusammengetrommelt und nach einer nur für wenige sichtbaren Fahrt in andere Dimensionen das ausgegossen, was als einzige Kraft wirklich Nachhaltiges bewirken kann: den Geist Gottes, heilig und machtvoll.
Nicht allzu lange vorher hatte er ihnen all diese Dinge angedeutet und verband das mit der Aussage:
Nur noch kurze Zeit, und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich, weil ich lebe und weil auch ihr leben werdet.
Johannes 14, 19
Als er diese Worte zu ihnen sagte, verstanden sie ihn noch nicht, und waren entsprechend verwirrt, als sie sein vermeintliches Scheitern mit ansehen mussten. Wie weitgehend die Aussage über das Ihn-Sehen und Leben Wahrheit werden würde, konnten sie nur schrittweise verstehen. Zunächst waren es konspirative Begegnungen, unter mystisch anmutenden Bedingungen. Er ging durch Wände, geschlossene Türen, konnte sich seinen Freunden zeigen und doch unerkannt bleiben, aber ihnen wurde unmissverständlich klargemacht: Er war da.
Als er dann Abschied nahm, um aus höheren Gefilden die Streuung seiner geistlich-administrativen Tätigkeiten vorzubereiten, ließ er ihnen eine Aussicht zurück, die sie recht machtvoll aus dem Sektenstatus herausmanövrieren könnte, die aber in dem Moment für sie noch sehr fragwürdig gewesen sein muss:
... ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist; und ihr werdet meine Zeugen sein, sowohl in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde.
Apostelgeschichte 1:8
Was für eine Aussage! Ein kleines Häufchen Menschen, so unbedeutend für ihr Umfeld, dass sogar der Begriff Sekte für sie noch zu hochgegriffen erschien, bekommt einen solchen Segen zugesprochen. In der Kraft des Heiligen Geistes sollten sie bis an die Enden der Erde, wo immer man diese mit dem damaligen Weltbild vermuten mochte, Zeugen Jesu sein. Ziemlich unüberschaubares Arbeitsfeld und aus menschlicher Sicht schon von der Planung her eher nicht zu bewältigen.
Er hatte sie bereits vor dieser vorerst letzten Begegnung angewiesen in Jerusalem zu bleiben und zu warten „auf das, was der Vater versprochen hat und worüber ihr von mir gehört habt. Denn Johannes taufte mit Wasser, aber ihr werdet in wenigen Tagen mit heiligem Geist getauft werden.“, Vv 4, 5.
Als das mit dem Heiligen Geist dann wirklich geschah, war das für sie wie für alle Beobachter allerdings ein Ereignis, das man nicht so schnell vergessen würde.
Ich erwähne diese allgemein nicht unbekannten Ereignisse, um zu zeigen, was mir am Begriff Sekte und am Gebrauch dieses Begriffs erwähnenswert erscheint. In erster Linie, weil ich es für jemanden, der sich heute gern ein belastbares Bild von Gott und Jesus machen möchte, wichtig finde zu differenzieren. Denn, wie schon gesagt, „Sekte“ sind immer die anderen.
Meistens versteht man Sekte als eine Absplitterung von etwas, das vorher da war, und als „Urzelle“ zwangsläufig größer ist, zunächst wenigstens. Ein weiterer Aspekt ist die Neigung, Persönlichkeiten zu bewundern oder sonstwie auf einen Sockel zu stellen. Vermutlich spielt beides eine Rolle.
Man neigt dazu, das Wort negativ zu besetzen, denn es transportiert die im gesellschaftlichen Mainstream übliche Denkweise, dass die anderen die sind, die nicht dazu gehören. Dieses Denken liegt auch dem Nationalismus und dessen engem Verwandten, dem Rassismus zugrunde. Die „dort draußen“ sind dann die schwarzen Schafe, die einfach nicht dazugehören. Interessant finde ich dabei, dass die „richtigen Schafe“ ihre Methoden haben, die anderen als Außenseiter bezeichnet zu halten, wohingegen jene gar nichts gegen die „ordentliche“ Herde haben, sondern einfach nur anders sind, sonst nichts.
Um dem Ganzen etwas mehr Verständlichkeit abzuringen, extrahiere ich das Negative und nehme eine wertfreie Betrachtung vor. So kann ich besser differenzieren zwischen schädlichen und gesunden Arten, anders zu denken. Auf das heute gelebte Christentum bezogen, müssen wir bedenken, dass 2000 Jahre der Verbreitung „bis an die entfernteste Enden der Erde“ auch kulturelle Beeinflussungen mit sich brachten. In der Vorstellung etablierter Vor- und Nachdenker ist aus dem kleinen Häufchen naiver Pioniere, die zunächst mal Land beschaffen mussten, das man dann kultivieren konnte, dann eine - „die“ - richtige Kirche entstanden, mit einem gottgewollten Oberhaupt als sein Stellvertreter auf Erden und gut geschulten Stellvertreter-Stellvertretern.
Erst durch ihr hartes Durchgreifen mit der Hilfe der meist durch sie selbst autorisierten Machthaber, konnte ihre Wahrheit in allen Völkern durchgesetzt werden, denn viele wollten gar nicht bekehrt werden, Narren, diese. Man war so gut organisiert, dass man auch Fachkräfte hatte, die darauf aufpassten, dass niemand vom rechten Glauben abwich, und stattete sie mit der notwendigen Macht und dem entsprechenden Personal und Gerätschaften zur Meinungsbildung aus.
Diese Organisation ist die älteste und allein schon aus diesem Grunde richtige, und man schaffte es auch lange, alle Menschen glauben zu lassen, es gäbe eine ununterbrochene Linie von Petrus – dem „ersten Papst“ – bis zum heutigen geistlichen Papa. Würde ich diese Darstellung der Entwicklung als richtig akzeptieren, wäre dieses Gesamtpaket – angefangen bei Jesus in einer konsequenten Entwicklung bis zum heutigen Rom - also die reine wahre Gemeinde, in der man im Interesse der Einheit mitmarschieren müsste. Wer ausbricht und gar Nachfolger um sich schart, ist dann ein Sektierer, die neu entstanden Gemeinschaft damit eine Sekte. Also: Nicht-katholisch gleich Sekte.
Es gab aber seit Bestehen dieses organisierten zwanghaften Glaubens immer kritische Geister, die mit verschiedenen Lehren und Denkweisen nicht einverstanden waren; vielleicht, weil sie meinten, es stimme nicht mit den Zielen Jesu überein. Man mag darüber Treffen abgehalten und gemeinschaftlich nachgedacht haben, um näher an die Wahrheit heranzukommen. So etwas könnte zu einer tieferen Einsicht führen, von der dann alle profitieren. Es lief aber meist eher so ab, dass man solche Leute als Untergräber der Lehrautorität ausgrenzte und rausschmiss. Wenn sie Glück hatten, denn es gab auch unfreundlichere Praktiken des Umgangs mit Andersdenkenden, Sektierern eben.
Was aber, wenn dieses großartige, immer reicher und prunkvoller werdende Etwas selbst das Ergebnis einer früh einsetzenden sektiererischen Entwicklung gewesen wäre? Viele mag es überraschen, dass sowohl Jesus als auch die Apostel eine solche Entwicklung voraussahen und entsprechende Warnungen formulierten.